Großmeister Sokaku Takeda (武田惣角 Takeda Sōkaku) (* 10. Oktober 1860 in Aizu; † 25. April 1943 im Alter von 83 Jahren am Bahnhof von Aomori auf Honshu) gehörte zu den letzten Samurai und war ein berühmter Meister der Kampfkünste. Er wurde als Neuentdecker des Daito-Ryu und als Lehrer von Morihei Ueshiba, des Erfinders von Aikido sowie von Choi Yong-sul, dem Erfinder von Hapkido bekannt. Als Junge erlernte Sokaku Takeda von seinem Vater Kenjutsu, Bojutsu und Sumo. Im Jahr 1875 besuchte er Saigo Tanomo in seinem Kloster um Priesterunterricht zu erhalten, dort erlernte er auch Oshiki-uchi.
Das bedeutsamste Ereignis während Moriheis Aufenthalt auf Hokkaido war sein Zusammentreffen mit Sokaku Takeda, dem gefürchteten Meister des Daito ryu aikijujutsu.
Sokaku Takeda, der letzte Krieger alter Schule, wurde 1859 in Aizu in der heutigen Präfektur Fukushima geboren. In einem Land unbeugsamer Samurai galten Aizu-Krieger als die Gefürchtetsten. Die gesamte Provinz war eine „Schatzgrube der Kampfkünste“. Überall in Aizu gab es Übungshallen, in denen Kampfkünste jeder erdenklichen Art gelehrt wurden.
Sobald der kleine Sokaku laufen konnte, bekam er Unterricht im Schwertkampf, Bajonettkampf, Kampf-Jujutsu und Sumo durch seinen äußerst strengen Großvater Soemon und seinen Vater Sokichi, die, wenn Sokaku eine Technik nicht schnell genug beherrschte, ihm zur Strafe die Finger versengten. Glücklicherweise stellte sich aber heraus, dass Sokaku fast ein Wunderkind war, der nichts anderes als die Kampfkünste im Kopf hatte.
Im Alter von dreizehn Jahren wurde Sokaku zu Toma Shibuya in die Lehre geschickt. Er sollte bei ihm die Schwertkunst des Ono itto ryu lernen; vier Jahre später stellte die Schule ihm ein Lehrerdiplom aus. Den offiziellen Aufzeichnungen des Daito ryu zufolge wurde Sokaku anschließend Schüler des gefeierten Meisters Kenkichi Sakakibara des Jiki shinkage ryu; jedoch gibt es in den Analen jener Schule keine Belege über Sokakus Unterricht, und da sich Sokaku später ziemlich abschätzig über Sakakibara äußerte, ist es recht schwierig zu ermitteln, in welchem Ausmaß, wenn überhaupt, Sokaku unter Sakakibara trainierte. Angeblich schickte Sakakibara Sokaku zu Shunzo Momonoi, dem Leiter des Kyoshinmei ryu in Osaka; aber auch hier brüstete sich Sokaku später damit, Momonoi „in jedem zweiten Kampf“ besiegt zu haben.
Als junger Mann muss Sokaku wohl von Übungshalle zu Übungshalle gewandert und ziemlich viel Unruhe gestiftet haben. Anscheinend hat er nie längere Zeit bei einem Meister studiert. 1875 starb plötzlich Sokakus älterer Bruder, und der junge Schwertkämpfer wurde nach Aizu zurückgerufen, um dort die erbliche Stellung eines Shinto-Priesters einzunehmen. Sokaku sollte unter dem ausgezeichneten Priester Saigo Tanomo studieren, der gleichzeitig ein Gelehrter von hohem Rang und ein Meister der Kampfkünste war. Er war zufälligerweise auch der letzte Mann, der in der Lage war die geheimen Oshiki-uchi-Techniken des Takeda-Clans zu lehren.
Tanomo, der oberste Berater der Regierenden in Aizu, war einer der wenigen, der die Aizu-Führer drängte, sich der neuen Meiji-Regierung nicht zu widersetzen. Tanomo wurde leider überstimmt. Hunderte seiner Landsmänner kamen in der nun folgenden stürmischen, aber letztendlich fruchtlosen Rebellion gegen die kaiserliche Armee 1868 um. Während des letzten großen Angriffs wurde Tanomo nach Hakodate auf Hokkaido entsandt, um den allerletzten Versuch einer Verteidigung durch die dem Tokugawa-Regime verbliebenen Loyalisten zu organisieren. Inzwischen hatten die kaiserlichen Soldaten die Verteidiger in Aizu bereits überwältigt; als sich der Feind dem Grundstück der Familie Tanomos näherte, begingen seine Mutter, seine Frau, seine vier Töchter und vierzehn weitere Mitglieder des Haushaltes Massenselbstmord, um der Schande der drohenden Gefangennahme zu entgehen. Es wird erzählt, dass ein persönlicher Berater von Tanomo zum Ort des Geschehens eilte und dort eine der vier Töchter noch lebend vorfand. „Freund oder Feind?“, flüsterte sie. Als das Mädchen die Antwort „Freund!“ hörte, verlangte sie ruhig und gefasst von dem Soldaten, sie mit einem Dolchstoß durchs Herz zu töten, und so folgte sie ihrer Mutter und ihren Schwestern in einen ehrenwerten Samuraitod.
Tanomo wusste nichts vom Schicksal seiner Familie und wurde auf Hokkaido verhaftet, später aber dann von der neuen Regierung begnadigt, die seine Fähigkeiten erkannt hatte. Danach war Tanomo in verschiedenen Distrikten Shinto-Priester und inoffizieller Regierungsberater. Dem Geist der Zeit entsprechend beschloss er die überragenden Oshiki-uchi-Techniken, die den Kriegern von Aizu zugute gekommen waren, zu systematisieren und in der ganzen Welt zu lehren.
Als Tanomo erkannte, dass Sokaku sich gar nicht zum Shinto-Priester eignete – der „Teufelskrieger“ war nahezu Analphabet und viel zu fixiert auf das Training der Kampfkünste, als dass er mit Lesen und Schreiben Zeit verschwenden wollte -, fing er an, seinen Schützling in den Oshiki-uchi-Techniken zu unterweisen. Aber dennoch betrachtete Tanomo Sokaku bei der Wahl seines Nachfolgers nur als seinen zweitbesten Mann.
Tanomo hatte nämlich ursprünglich seine Lehre seinem Adoptivsohn – manche behaupten, er sei ein uneheliches Kind – Shiro (1872 – 1923) übermittelt. Shiros Begabung weckte später die Aufmerksamkeit von Jigoro Kano, der den jungen Kampfkunstexperten für sein neu eröffnetes Übungszentrum des Kodokan-Judo gewann. 1887 fand ein offener Wettkampf zwischen den Vertretern des alten und des neuen Stils im Jujutsu statt; Shiro, der die von Tanomo gelehrten Techniken einsetzte, bezwang einen gewaltigen Gegner und trug den Sieg für Kanos Gruppe davon. Kano betrachtete den fähigen Shiro als seinen vielversprechendsten Schüler, und auch Tanomo, wie bereits oben erwähnt, hatte den Jungen als seinen Nachfolger im Auge. Shiro hatte das Zeug ein zweiter Morihei zu werden, aber 1891 gab er sowohl Oshiki-uchi als auch Judo plötzlich auf – die Gründe sind nur ihm selbst bekannt – und floh ins entfernte Nagasaki, um sich dort dem Studium der Journalistik, der Politik und dem japanischen Bogenschießen zu widmen. Er widerstand allen Überredungsversuchen, die beiden anderen Kampfkünste wieder zu praktizieren. Erst als ganz klar war, dass Shiro nicht mehr von seiner Entscheidung abzubringen war, entschied sich Tanomo schließlich für Sokaku als Erben der Oshiki-uchi-Techniken.
In der Zwischenzeit reiste Sokaku umher, unterrichtete an verschiedenen Orten und Schulen und unternahm alles, um seine kämpferischen Fähigkeiten zu vervollkommnen. Um 1877 befand er sich offenbar auf Kyushu; möglicherweise hatte er gehofft, etwas von der Revolte mitzubekommen, die von Takamori Saigo, einem Verwandten von Tanomo, angeführt wurde. (Sokaku war während des Aufstandes von Aizu noch ein Kind; wäre er ein paar Jahre älter gewesen, hätte er zusammen mit den berühmten Byakko tai, dem „Aizu-Jungenheer“ Selbstmord begehen müssen.) Zum Zeitpunkt seiner Ankunft war die Rebellion bereits niedergeschlagen worden, und so schuf sich Sokaku seine eigenen Kämpfe, indem er die Dojo am Ort stürmte und sich sein Taschengeld verdiente, wenn er es auf Jahrmärkten in Schaukämpfen mit jedem aufnahm. Als auf Kyushu keine Gegner mehr zu finden waren, machte sich Sokaku auf den Weg nach Okinawa, dem Sitz des „Kampfes mit leeren Händen“, und fügte somit Karate der Liste der von ihm beherrschten Kampfkünste hinzu.
Kurz gesagt verbrachte Sokaku seine Jugend als „Straßenkämpfer“, der sich auf hunderte von Entscheidungskämpfen einließ, bei denen alles erlaubt war. Er tötete eine Reihe von Angreifern und zettelte eines Tages einen kleinen Ein-Mann-Krieg gegen eine Bande von Bauarbeitern an. Sokaku geriet mit der Bande in Streit und zog, als er mit Äxten, Eisenstangen und Steinen angegriffen wurde, sein Schwert. Sokaku hieb sich seinen Weg durch die Menge und hinterließ einige Tote und Verwundete. Er wurde verhaftet und wegen Totschlags vor Gericht gestellt.
Später ließ man ihn aber wieder frei, nachdem das Gericht zu dem Urteil kam, er habe in Notwehr gehandelt. Die Behörden konfiszierten allerdings sein Schwert und legten ihm nahe, in Zukunft ähnlichen Konflikten aus dem Weg zu gehen.
Sokakus grimmiger Gesichtsausdruck war auf fehlende Vorderzähne zurückzuführen; er hatte sie während einer Vorführung im Kampf gegen drei mit Lanzen bewaffnete Männer verloren. Als Sokaku eine der Lanzen mit seinem Schwert zerbrach, um das Publikum zu beeindrucken, wurde er von der umherfliegenden Klinge am Mund getroffen.
1880 nahm Sokaku seinen Unterricht bei Tanomo im Toshogu-Schrein von Nikko wieder auf, wo Tanomo zum Hilfspriester ernannt worden war. 1888 begann Sokaku damit, eigene Schüler zu unterrichten. Er unternahm den Versuch ein normales Leben zu führen, heiratete und baute sich ein Haus; seine Frau starb jedoch bei der Geburt des zweiten Kindes, und kurz darauf zerstörte eine Feuersbrunst sein Haus. Daraufhin übergab Sokaku seine Kinder in die Obhut von Verwandten und setzte wieder einmal sein ruheloses Leben fort.
Erst 1899 lehrte Tanomo ihn die letzte der Oshiki-uchi-Techniken und schenkte ihm das folgende Gedicht als eine Art „Zertifikat“:
Menschen, wisset:
Schlagt ihr die fließenden Wellen des Flusses, bleibt keine Spur im Wasser zurück.
Von 1898 bis 1915, dem Jahr, in dem Sokaku mit Morihei auf Hokkaido zusammentraf, reiste er von Ort zu Ort, hauptsächlich im nördlichen Japan, und verdiente sich seinen Lebensunterhalt mit dem, was wir heute als Seminare und Workshops bezeichnen würden. Wenn man Sokakus Aufzeichnungen glauben kann, so waren fast alle großen Meister der Kampfkünste aus der damaligen Zeit zumindest eine Zeit lang seine Schüler gewesen. In jenen Tagen bedeutete die „Aufnahme“ in Sokakus Kurse, einen Kampf gegen ihn zu verlieren. Die Tatsache, dass viele der besiegten Herausforderer selbst zu den besten Lehrern zählten, deutet darauf hin, dass Sokaku wirklich über ungeheures Können verfügte und alle seine Angreifer schlagen konnte, unabhängig davon, in welchem Stil sie ausgebildet waren.
Im Jahr 1904 hatte Charles Perry, ein Amerikaner, der an einer Schule in Sendai Englisch unterrichtete, einen denkwürdigen Zusammenstoß mit Sokaku, und zwar in einem Eisenbahnzug. Perry nahm Anstoß am Aussehen des schäbig gekleideten japanischen Fahrgastes, mit dem er sein Erste-Klasse-Abteil teilen musste, und so bat er den Zugschaffner, die Fahrkarte dieses Burschen zu kontrollieren. Als Sokaku wissen wollte, warum er als einziger seine Fahrkarte vorzeigen musste, informierte ihn der Schaffner über die Beschwerde des Amerikaners. Der aufgebrachte Sokaku sprang von seinem Sitz hoch, baute sich vor Perry auf und verlangte eine Erklärung. Perry sprang ebenfalls auf. Er war davon überzeugt, mit seinen 1,80 Metern den viel kleineren Sokaku einschüchtern zu können. Stattdessen packte Sokaku rasch die erhobenen Fäuste des Amerikaners, wandte einen unerträglich schmerzhaften Hebelgriff an und warf Perry in die hinterste Ecke des Abteils. Als Perry sich von den Schmerzen des Angriffs und seinem Schock darüber erholt hatte, von einem nur halb so großen Männlein so leicht überwältigt worden zu sein, bat er zerknirscht um Verzeihung und bat Sokaku um Unterricht in dieser Kunst. Über Perry gelangten Informationen über Sokakus wirksame Techniken bis zu Präsident Theodore Roosevelt; Sokaku entsandte später seinen Schüler Shunsa Harada, einen Polizeibeamten aus Sendai, in die Vereinigten Staaten, wo dieser dem amerikanischen Präsidenten und anderen Regierungsmitgliedern drei Jahre lang Unterricht erteilte.
Die folgende Geschichte spielte sich etwa um die gleiche Zeit ab: in der Päfektur Fukushima terrorisierte ein Bandit die Bevölkerung, aber trotz umfangreichen Polizeieinsatzes konnte man ihn nicht festnehmen. Eines Morgens wurde der Geächtete tot in einem Feld gefunden. Sein Kopf war fast vollständig vom Körper abgerissen. Man fragte sich natürlich verwundert, wer es denn gewagt habe, diesen bösartigen Verbrecher zu ermorden. Offiziell wurde keine Erklärung abgegeben, aber einige Polizisten wussten sehr wohl, dass Sokaku, der zu jener Zeit gerade einen Übungskurs abhielt, jede Nacht vorsätzlich ganz allein auf den dunkelsten Straßen spazieren ging.
Um 1911 wurde Sokaku vom Polizeipräsidium auf Hokkaido eingeladen, die dort beschäftigten Polizisten zu unterrichten. Außer den rechtmäßigen Siedlern wie z.B. Moriheis Gruppe war Hokkaido mit seinen offenen Grenzen ein Zufluchtsort für Banditen – die Küste war von Piraten übersät, und im Inneren der Insel trieben Wegelagerer und Räuber ihr Unwesen. Ganze Banden, die Prototypen der heutigen Yakuza, waren in Schmuggelgeschäfte, Spielhöllen und den Sklavenhandel verwickelt. Die Polizei war weitestgehend machtlos und auch zahlenmäßig unterlegen; sogar mehrere Polizeistationen waren von den Banden überfallen und ausgeraubt worden.
So wie man früher in eine gesetzlose Stadt des Wilden Westens einen U.S. Marshall einberief, der Ruhe und Ordnung wiederherstellen sollte, machte sich der damals 50-jährige Sokaku auf den Weg in die ungezähmte Wildnis. Die Gangster, die vor Sokakus Ankunft gewarnt worden waren, ließen den kleinen Krieger sofort beschatten. Als sie erfuhren, dass er jeden Morgen unbewaffnet ein öffentliches Bad aufsuchte, wurden sechs Rowdys damit beauftragt, ihm eine Lektion zu erteilen. Ein nasses Handtuch kann selbst in den Händen eines Schuljungen zur Waffe werden und auf der Haut schmerzhafte Striemen hinterlassen; als Sokaku nämlich sein Ki in die provisorische Waffe schickte, schlug er seine Angreifer bewusstlos und brach einigen sogar ein paar Rippen. Sokakus unglaubliche Kräfte versetzten die Gangster in Angst und Schrecken. Eine kleine Armee von zweihundert Mann umstellten daraufhin Sokakus Hotel und bereiteten sich auf eine Machtprobe vor. Der trotzige Sokaku schwor, die Stadt mit Leichen zu pflastern, und die Bevölkerung der Stadt suchte schleunigst Schutz in ihren Behausungen. Wie in einem Hollywood-Western wurde dann aber ein Waffenstillstand zwischen dem Gangsterführer und Sokaku vereinbart und somit ein Blutvergießen verhindert.
Als Sokaku ein paar Jahre später nach Hokkaido zurückkehrte, kreuzte sich sein Weg unweigerlich mit dem Moriheis. Morihei hatte schon eine Zeit lang gewusst, dass Sokaku sich auf Hokkaido aufhielt. Als er einmal einen Sumo-Ringer während eines improvisierten Wettkampfes vernichtend schlug, wurde er gefragt, ob er „der berühmte Sokaku Takeda“ sei. Auf einer Reise nach Engaru erfuhr Morihei, dass Sokaku in einer nahe gelegenen Herberge Übungsstunden abhielt und machte sich sofort auf den Weg um daran teilzunehmen.
Nachdem er Augenzeuge einer beeindruckenden Vorführung geworden und von dem schmächtigen Sokaku im Handumdrehen erledigt worden war, bat Morihei um die Zulassung zum „Daito ryu“, wie Sokaku gerne seinen Unterricht bezeichnete, und wurde aufgenommen. Morihei ließ alles andere stehen und liegen, blieb einen Monat lang in der Herberge und trainierte mit Sokaku Tag und Nacht. Nach dreißig Tagen intensivsten Trainings wurde Morihei die Lehrerlaubnis Stufe eins verliehen.
Morihei kehrte anschließend nach Shirataki zurück – sehr zur Erleichterung seiner Familie und seiner Freunde; sie hatten nämlich befürchtet, er sei bei einem Schneesturm ums Leben gekommen, weil sie einen Monat lang nichts mehr von ihm gehört hatten. Morihei baute nun auf seinem Grundstück ein Dojo und ein Haus für Sokaku, lud den Meister ein, dort seinen Unterricht abzuhalten und bekam jeden Morgen zwei Stunden Einzelunterricht. Sokaku erteilte auch am Nachmittag Unterricht für Gruppen. Weil Sokaku zu den Meistern der alten Schule gehörte, war Morihei verpflichtet, ihn rund um die Uhr zu bedienen, persönlich seine Mahlzeiten zuzubereiten, seine Kleider zu waschen, stundenlang Schultern und Beine zu massieren und ihm beim Baden zur Hand zu gehen.
Nach dem verheerenden Brand in Shirataki im Jahr 1917 hatte Morihei nicht mehr so viel Zeit, mit Sokaku zu trainieren, begleitete ihn aber weiterhin auf gelegentliche Reisen in verschiedene Gebiete Hokkaidos, wo Sokaku häufig unterrichtete. Ende 1919 verließ Morihei Hokkaido ganz plötzlich, und zwar für immer. Der „offizielle“ Grund für Moriheis Weggang aus Shirataki war eine schwere Erkrankung seines Vaters in Tanabe. Diese Begründung wurde allerdings in Zweifel gezogen, denn es scheint sicher zu sein, dass die Erkrankung des Vaters eher ein willkommener Vorwand als der echte Grund für Moriheis Abreise war.
Zunächst einmal hatte Morihei, noch bevor er vom kritischen Gesundheitszustand seines Vaters erfahren hatte, seine ganze Familie bereits zurück nach Tanabe geschickt (mittlerweile waren auf Hokkaido noch zwei kleine Jungen geboren worden). Zudem war er offensichtlich nicht sehr glücklich in Shirataki. Er zögerte nicht, alles, was er dort besaß, einfach zurückzulassen (das meiste seines Hab und Guts wurde an Sokaku übergeben). Und schließlich eilte er nicht direkt ans Krankenbett seines im Sterben liegenden Vaters, sondern machte auf seiner Reise einen Umweg, um das Zentrum des Omotokyo, einer neuen Religionsgemeinschaft, zu besuchen. Selbst wenn sein Besuch dazu diente, für die Genesung seines Vaters zu beten, wäre es doch natürlicher gewesen, direkt nach Tanabe zurückzukehren, um die Situation mit eigenen Augen sehen und einschätzen zu können.
Morihei war damals wohl geistig sehr ruhelos und immer noch auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, und außerdem ernüchterten ihn Sokakus Lehrmethoden. Er wollte möglicherweise auch allein für sich selbst experimentieren und nicht mehr abhängig sein von den unaufhörlichen Forderungen dieses anspruchsvollen Mentors, der ihn oft zur Verzweiflung brachte.
Obwohl Sokaku zweifellos ein außergewöhnlicher Meister der Kampfkünste war, mit Sicherheit einer der begabtesten Budoka aller Zeiten, war er vom Charakter her gesehen nicht auf derselben Entwicklungsstufe. Er war übellaunig, eitel und arrogant, und er empfand übermäßigen Stolz darüber, dass er so viele Männer niedergestreckt hatte (und gleichzeitig hatte er furchtbare Angst vor den Geistern der Verstorbenen, die ihn, wie er sagte, des Nachts heimsuchten), und er hegte eine gehörige Portion Verachtung für andere Leute und Traditionen. Beispielsweise sprach er einmal von dem ehrwürdigen Jigoro Kano als „Fischhändler“. Wenn Sokaku, der ziemlich gewalttätig war, ein menschliches Wesen erspähte, sah er in ihm sofort einen Feind; er trug einen blanken Dolch am Leib, sobald er das Haus verließ, und in seinem Spazierstock steckte eine messerscharfe Klinge, die er nach jedem Hund warf, der es wagte ihn anzubellen. Sogar Zuhause hielt er stets gespitzte Essstäbchen bereit, um jeglichen Eindringling abzuwehren. Er war so krankhaft misstrauisch, dass er nichts aß oder trank – noch nicht einmal Tee, den er selbst zubereitet hatte -, was er nicht vorher von einem Schüler kosten ließ, für den Fall, dass es vergiftet sei. Es ging auch das Gerücht, dass der wahre Grund, weshalb Morihei seine Familie nach Tanabe zurückschickte, Sokakus Annäherungsversuche an Moriheis Frau gewesen waren.
Jedenfalls fand sich der 36-jährige Morihei in Ayabe wieder, einer kleinen Stadt in der Nähe von Kyoto, wo eine schicksalhafte Begegnung mit Onisaburo Deguchi, einer der rätselhaftesten Figuren des 20. Jahrhunderts, stattfand.